Das Vorkommen der Schläfer (Myoxidae) in der Gegend von Warstein.
Von B. Wiemeyer.
a. Muscardinus avellanarius L.
Das Verbreitungsgebiet der Haselmaus wird in Westfalen nach Norden wohl durch das Haarstrang-Gebirge begrenzt; wenigstens habe ich trotz eifriger Nachforschungen in dem nördlich dieses Höhenzuges gelegenen ebenen Teile des Regierungsbezirkes Arnsberg dieses Tierchen nicht entdecken können. Im südlichen Teile Westfalens, speziell im eigentlichen Sauerlande und in der hiesigen Gegend, tritt die Haselmaus überall, wenn auch nicht gerade häufig auf und wählt unter Vermeidung des geschlossenen, finsteren Hochwaldes lichte Waldraine, junge Aufschläge, Waldhecken etc. zu ihrem Aufenthalte. Hier findet der aufmerksame Beobachter im Hochsommer – selten vor August – das kugelige, innen mit feinen Gräsern ausgefütterte Laubnest in jungen Fichtenbäumchen, in Dorn- und Haselsträuchern, in Wildrosengebüsch, meistens dort, wo dichtes, hängendes Gezweig ein geeignetes, sicheres Plätzchen für die Anbringung des Nestes bietet. Mir ist ein Dickicht von Hasel-, Dornen- und Wildrosengebüschen bekannt, welches den Saum eines jungen Waldes überwuchert und von Geissblatt lianenartig durchzogen ist. An dieser Stelle befindet sich fast alle Jahre ein Nest, und zwar steht es hier durchweg auf den das Gebüsch durchziehenden Geissblattranken. Einmal fand ich ein Nest in einer nur einen Fuss hohen Rottanne und 1893 in der Efeuumrankung einer ziemlich starken Eiche, welche allerdings am Waldessaume inmitten jungen Buchenaufschlages einzeln stand.
Im Sommer des Jahres 1894 strebte ich darnach, ein Nest mit jungen Haselmäusen zu erwerben, um das Leben und Treiben dieser possierlichen Tierchen näher beobachten zu können und namentlich, um Genaueres über das Wachstum der Jungen in Erfahrung zu bringen.
Am 26. August fand ich in unmittelbarer Nähe der Bilstein-Höhlen ein Nestchen etwa 5 Fuss hoch in einem dichten, jedoch hart an frequentem Wege stehenden Rottannenbäumchen, und es glückte mir, mit dem Neste das alte Muttertier nebst 5 eben geborenen, ganz hilflosen Kleinen zu erwerben. Die Jungen, welche sich durch sehr grosse Köpfe nicht eben vorteilhaft auszeichneten, massen von der Schnauze bis zum Schwanzspitzchen 40 bis 45 mm. Ein geräumiger Holzkäfig von ¾ cbm Inhalt, dessen Vorderseite mit Drahtgeflecht versehen war, nahm die Familie auf. Das Nest hatte ich mit dem betr. Teile des Tannenbäumchens in die Ecke des Käfigs gebracht, und zwei Sitzstangen gewährten dem alten Tiere die Möglichkeit, etwaige Klettergelüste zu befriedigen. Der Boden des Käfigs war mit Sand etwa zollhoch bedeckt, und als Futter reichte ich saftige Birnen, süsse Sommerpflaumen, Haselnüsse, Vogelbeeren und Weissdornfrüchte, später auch Eicheln und Bucheckern.
Am 2. September entdeckte ich, wiederum bei der Bilsteinhöhle, ein zweites Nest, etwa 6½ Fuss hoch im hängenden Gezweige einer üppigen wilden Rose. Als ich hinzutrat, um zu erfahren, ob auch dieses Nest besetzt sei, wurde der Rosenstock unwillkürlich etwas stark erschüttert, und ich bemerkte, dass das alte Tier fast ganz aus dem Neste hervorschaute. Den Störenfried vermochte es jedoch anscheinend nicht zu entdecken, denn nach wenigen Minuten zog es sich in seine Wohnung zurück. Es gelang mir nun, durch Vorhalten der Hand das Tierchen im Nest festzuhalten, und ich erwarb neben dem alten Muttertiere wieder 5 nackte Junge, die etwa so gross waren, wie die erst genannten Jungen vor 8 Tagen gewesen waren. Auch diese Familie wurde in den Käfig zu der ersten gesteckt und das Nest in einem kleinen Holzkasten in einer Ecke des Käfigs untergebracht. Jedes Muttertier ruhte am Abend dieses Tages (2. IX.) in seinem Neste bei seinen Jungen. Als ich am anderen Morgen an den Käfig trat, bemerkte ich zu meinem Erstaunen, dass in dem ersten Neste, welches ich am 26. VII. erhalten hatte, die Jungen kalt und steif dalagen. Der Mund war bei sämtlichen Tierchen geöffnet; es lebten jedoch noch alle. Die Mutter befand sich nicht im Neste und war auch im Käfige nicht zu entdecken. Als ich nun auch das zweite Nest (im Holzkistchen) einer Untersuchung unterzog, fanden sich zu meinem Erstaunen die beiden Alten in diesem Neste friedlich nebeneinander auf den 5 Jungen, und diese waren ganz lebenslustig. Ich führte die erste Mutter wieder in ihr ursprüngliches Nest zu den erstarrten Jungen zurück; am nächsten Morgen bot sich mir aber das nämliche Schauspiel dar. Die Mutter hatte ihre Kleinen zum zweiten Male verlassen und wiederum die Gesellschaft der anderen Familie in dem Holzkästchen aufgesucht. Da ich nun befürchtete, die 5 verlassenen Jungen zu verlieren, so nahm ich deren Mutter, die, nebenbei bemerkt, schon früher durch Schneiden der Rückenhaare von mir gezeichnet war, von dem zweiten Neste fort und setzte sie mit ihren leiblichen, ganz erstarrten Jungen in einem besonderen Holzkasten, dessen Vorderseite eine Glasscheibe einnahm, oben auf den grossen Käfig, sodass beide Familien jetzt vollständig getrennt waren. Am Abend fand ich bei einer Untersuchung das alte Tier im Neste auf seinen Jungen, und diese waren sämtlich wieder munter. Am folgenden Morgen (5. IX.) war die alte Haselmaus jedoch verschwunden; sie hatte in der Nacht vom 4. auf den 5. September ein walnussgrosses Loch durch den Holzkasten gefressen und sich davongemacht; die verlassenen Jungen lagen wiederum erstarrt im Neste. Ich glaubte die Alte jetzt verloren und stand vor der Frage, was mit den hilflosen 5 Kleinen zu machen sei. Nach längerem Besinnen beschloss ich einen Versuch zu machen und legte diese 5 Jungen zu den 5 Jungen des anderen Nestes. Bei einer Untersuchung am Morgen des 6. September fand ich sämtliche 10 Junge unter der einen Mutter ruhend wohl und munter im Neste. Dieses eine Muttertier hatte also alle 10 Mäuschen gut versorgt.
Als ich am Abend des 6. September von der Arbeit in meine Wohnstube zurückkehrte, bemerkte ich zu meiner Freude die entflohene Haselmaus in den Blumenstöcken des Fensters; sie war mithin aus dem obern Stock des Hauses über die Treppe in die Unterwohnung hinabgelaufen und hatte sich 1½ Tage im Wohnzimmer aufgehalten. Ich fing sie vorsichtig ein und setzte sie nun zu den 10 unter der anderen Mutter ruhenden Jungen in das eine Nest, welches sich aber jetzt als zu klein erwies. Infolgedessen nahm ich ein hölzernes Kästchen von etwa 15 ccm Inhalt, bedeckte den Boden desselben mit den Resten des früheren Nestes und gezupfter Watte und bildete eine runde, weich ausgefütterte Höhlung, welche gross genug war, sämtliche 10 Kleine aufzunehmen. Nachdem letztere gut gebettet waren, stellte ich aus Watte eine halbmondförmige Decke über dem Neste her, so dass es die Form eines Zaunkönignestes erhielt, und setzte jetzt die beiden alten Haselmäuse zu den 10 Jungen in das beschriebene Nest.
Am 7. September morgens fanden sich beide Mütter friedlich nebeneinander auf den Jungen, und diese zeigten sich mit Ausnahme eines, welches wohl erdrückt worden war, ganz gesund und wohl.
Von dieser Zeit an blieben die Jungen sämtlich in dem künstlichen Neste zusammen und wurden von den beiden Alten gemeinsam getreulich grossgezogen. Am 10. September massen die ältesten Mäuschen durchschnittlich 58, die jüngeren 55 mm von der Schnauze bis zur Schwanzspitze.
Am 16. September entdeckte ich ein drittes Nest mit 4 Jungen, die jedoch bereits ganz selbständig waren und schon in der Mittagsstunde über die vorgelegten aufgebrochenen Nüsse herfielen.
Auch diese vier Mäuschen wurden zu den 2 anderen Familien in den einen Käfig gesetzt und hielten, trotzdem ein besonderes Bett für sie bereitet war, Tagesruhe in Gemeinschaft der übrigen Haselmäuse in ein und demselben Kästchen. Streit und Bissigkeit scheinen die Haselmäuse im Gegensatz zu den grösseren Arten nicht zu kennen; wenigstens zeigten meine aus drei Familien zusammengesetzten Pflegekinder stets das Bild des schönsten Familienlebens.
In der Gefangenschaft wachsen übrigens die kleinen Tierchen sehr langsam heran, was wohl auf die veränderte Lebensweise zurückzuführen sein dürfte. So öffneten sich z. B. bei den von mir aufgezogenen Jungen, obgleich es meines Erachtens den Alten an sehr mannigfaltiger und hinreichender Nahrung niemals mangelte, erst in der dritten Lebenswoche – etwa am 17. Tage – die Augen, und die Ende August geborenen Mäuschen waren erst Anfang Oktober (nach 5 bis 6 Wochen) selbständig. In der Freiheit währt diese Periode nach meinen Beobachtungen nur etwa drei Wochen. Weinsaure Äpfel und Weintrauben wurden von den Jungen verschmäht, süsse Birnen und Zwetschen dagegen nebst aufgebrochenen Haselnüssen gern genommen.
Wenn ich die jungen Tierchen behufs Besichtigung in den Mittagsstunden dem Neste entnahm, so liessen die Alten vereinzelt einige kurze Töne hören, die mich fast an den Triller der Haubenmeise erinnerten, jedoch sehr schwach waren.
Ich behielt die ganze Kolonie bis gegen November, wo ich die Tierchen veräusserte. Die Jungen waren vollständig erwachsen, doch konnte man sie von den heller gefärbten Alten durch die dunklere Färbung sehr gut unterscheiden. Die letzteren sind ockergelb, wogegen junge Haselmäuse, auch wenn sie ausgewachsen sind, einen mehr braunen Ton zeigen. Es gibt kaum etwas Schöneres als eine eingewöhnte Haselmausfamilie, namentlich was die jungen Tierchen angeht. Die alten Tiere verlassen während des Tages allerdings selten das Nest bezw. die Lagerstätte und zeigen sich gewöhnlich erst gegen Abend; die Jungen dagegen kommen auch bei Tage regelmässig zum Vorschein, fallen über das Futter her und klettern gewandt im ganzen Käfige, namentlich am Drahtgitter, umher. Dabei konnte ich sie ruhig berühren und in die Hand nehmen, und wenn ich ihnen als grossen Leckerbissen eine weiche Birne vorhielt, kamen stets mehrere heran und benagten die Frucht.
In den späteren Jahren ist es mir nur noch einmal geglückt, ein Haselmausnest mit Jungen zu erwerben; jedoch vergeht kaum ein Winter, ohne dass ich durch einen Waldarbeiter die eine oder andere Haselmaus im Winterschlafe erhalte. Die Tierchen wachen, trotzdem ich sie in einen kalten Raum bringe, von Zeit zu Zeit auf und sprechen dann den ausgelegten Nüssen eifrig zu. Zumeist werden diese unten links am Rande der abgesetzten Grundpartie angebohrt. Herrn Dr. Reeker sandte ich im Frühjahr 1908 etwa 90 solche Frassstücke, von denen ungefähr 80 wie beschrieben angenagt waren. Nüsse, denen man äusserlich schon mit ziemlicher Sicherheit ein Taubsein anmerken kann, lässt die Haselmaus übrigens einfach liegen, ohne sie anzubohren.
b. Myoxus glis (L).
Der Siebenschläfer, hier „Bergratte“ genannt, kommt hier überall vor, jedoch nicht häufig. Ich erhielt ihn mehrfach aus der Umgebung der Bilsteinhöhle, wo er in den vielen Klüften des Devon-Kalkgesteines sicheren Unterschlupf findet. Mehrfach sind mir auch Tiere gebracht, welche man im Spätherbst in Starenkasten gefangen hatte, die seitens des Vogelschutzvereins und der Stadt ausgehängt waren. Herrn Präparator Rudolf Koch in Münster habe ich verschiedentlich diese Schläfer wie auch die vorhin beschriebene Haselmaus geliefert. Im Jahre 1893 erhielt ich ein altes Weibchen von Myoxus glis nebst einem halbwüchsigen Jungen, die von dem Höhlenführer eingefangen waren; das Nest war in einem Heuhaufen auf dem Boden des Höhlenrestaurants errichtet. Diese Tiere habe ich bis Mitte November in einem geräumigen Käfige gepflegt, jedoch keine empfehlenswerten Eigenschaften an ihnen wahrgenommen. Mitte November hat die bissige Mutter ihr leibliches Kind getötet und gänzlich verzehrt, obgleich Nahrung in Fülle gereicht worden war.
c. Eliomys quercinus (L.).
Dieser Schläfer ist meines Wissens erst zweimal hier gefunden, und zwar erhielt das eine Exemplar vor 25 Jahren Herr Rektoratlehrer Kropp hierselbst; das andere wurde mir am 27. April des Jahres (1909) gebracht. Man hatte es in einem Fichtenwalde entdeckt und mit einer Forke erstochen. Dieses Tier steht augenblicklich bei Herrn Präparator Rudolf Koch in Münster ausgestopft. Der Gartenschläfer kommt hier sicher häufiger vor, vielleicht häufiger als Myoxus glis; nur entdeckt man ihn bei seinem Aufenthalte in den dichten Fichtenwäldern seltener. Herr Präparator Fillinger hier hat ihn während eines Zeitraumes von 20 Jahren auch erst ein einziges Mal erhalten. Bei der immer grösseren Bevorzugung des Nadelholzes in den Forstkulturen dürfte sich der Gartenschläfer weiter verbreiten, analog dem Schwarzspechte, der vor 20 Jahren eine ausserordentliche Seltenheit hier war, heute aber schon häufiger angetroffen wird und seit einigen Jahren auch als regelmässiger Brutvogel festgestellt ist. So hat in den letzten Jahren stets ein Nest in einer hohlen Rotbuche bei der „Sedanbrücke“ gestanden.
Warstein, am 26. Juni 1909.
Zitiertitel:
WIEMEYER, BERNHARD (1909): Das Vorkommen der Schläfer (Myoxidae) in der Gegend von Warstein. – Jahresbericht der Zoologischen Sektion des Westfälischen Provinzial-Vereins für Wissenschaft und Kunst, 37 (für 1908/09): 54 – 58; Münster.